Nachts am Blauen Wunder – oder – Die Jagd nach „Opus Maximum“ Teil 7

Was bisher geschah: Professor Haberer hatte die Sebastian-Bach-Straße 22 ins Spiel gebracht. Der ehemalige Wohnsitz Karl Mays in Dresden war von Thomas Rosenlöcher (Dresdner Schriftsteller und vermutlicher Entführer von Ingvar) als Filiale der geheimen Autorenvereinigung „Opus Maximum“ angemietet worden. Wir hatten den Verdacht, dass Ingvar dort entweder in Ketten lag oder – im schlimmsten Fall – schon zum Bestandteil irgendwelcher Ausbesserungsarbeiten am Kellerboden geworden war. Wie auch immer: was geschehen war, würden wir jetzt feststellen …

Der Morgennebel am Dresdner Schillerplatz ist so dicht, dass ich selbst das Licht der übernächsten Straßenlaterne nicht mehr erkennen kann. Die Existenz des Blauen Wunders kann angenommen werden, ist aber nicht nachzuprüfen. Ich stolpere fast über Haberer. Er hat den dunkelgrünen Kaschmirmantel gegen einen weißen Pelz getauscht. Die Haare stehen ihm in wilden, von keinem Kamm gebändigten Büscheln vom Kopf ab. „Hier entlang!“

Kein Mensch ist um diese Zeit auf der Straße. Wir gehen ein Stück elbaufwärts.

„Hier rechts rein“, flüstert Haberer mir zu. Seine Atemluft riecht nach Knoblauch und Alkohol, sein Körper nach Schweiß. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, er möge in dieser Nacht ein paar Minuten geschlafen haben und nüchtern genug für unsere Aktion sein. Er scheint meine Gedanken zu erraten. „Mmmh, habe ein bisschen gefeiert gestern. Aber keine Sorge. Bin total fit!“

Haus Nummer 22 ist ein Stück von der Straße zurückgesetzt gebaut und selbst bei gleißendem Tageslicht wird man Schwierigkeiten haben, das kleine Schild zu entziffern, dass von seinem einstigen berühmten Bewohner kündigt. Alle Fenster sind dunkel.

Wir klettern über den Zaun, wobei sich Haberer seinen Pelz ruiniert. Es scheint ihn nicht sonderlich zu ärgern. „Wenn wir Ingvar befreit haben, wird er uns fürstlich belohnen. Dann kann ich mir soviele Pelzmäntel kaufen, dass mindestens zehn Tierarten vom Aussterben bedroht sein werden.“

Als wir vor der Tür stehen, erwarte ich, dass Haberer irgendwelches dem klassischen Einbrecherrepertoire zuzuordnendes Werkzeug aus seinen Taschen zaubert. Aber als wäre er hier zu Hause, zieht er einen schnöden Schlüsselbund hervor – und gibt sich dabei erfolgreich Mühe, leise zu sein. „Ich habe meine Kontakte bei diversen Hausverwaltungen. Und ich kriege in einer Nacht eine Menge organisiert. Trotz Party!“

Unsere Augen müssen sich an die nahezu vollständige Finsternis im Haus erst gewöhnen. Und selbst als das geschehen ist, können wir uns nicht ausreichend orientieren. „Ich hatte gehofft, irgendeine dämliche Straßenlaterne würde herein scheinen“, flüstert Haberer.

Aus dem oberen Geschoss ist ein tief zufriedenes Schnarchen zu hören. „Das wird Rosenlöcher sein …“

Haberer schaltet eine Taschenlampe ein, die er mit dem herausgebrochenen Glas einer überdimensionierten Sonnenbrille weitgehend abgedunkelt hat. Er zieht einen Zettel aus der Manteltasche, auf dem unter verschiedensten Flecken ein flüchtig skizzierter Grundriss zu erkennen ist. Dann streckt er seinen rechten Zeigefinger aus: „Hier geht es zum Keller. Ich vermute mal, da ist er drin.“

Die Tür knarrt leicht, wir wagen kaum zu atmen. An der Frequenz des Schnarchens über uns ändert sich nichts. Wir steigen eine schmale Treppe hinab.

Als wir den Keller betreten, können wir im ersten Augenblick nichts von Ingvar bemerken. Alles ist angefüllt mit Kartons, alten Zeitungen und leeren Flaschen. Dann bemerken wir, dass der Keller noch eine versteckte, um die Ecke gebaute kleine Nische besitzt. Und da hören wir auch schon ein seltsam würgendes Geräusch, das nicht von einem Menschen zu stammen scheint.

Ingvar liegt in Fesseln und ist geknebelt.

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„Mmmmpffff!“ macht er – und die Augen fallen ihm vor Anstrengung fast aus den Höhlen. Wir schneiden ihn los. Dabei bemerke ich, dass man zum Fixieren des Knebels ein Halstuch der Thälmannpioniere verwendet hat, das die letzten zwanzig Jahre wo auch immer zugebracht haben mag. „Seid bereit – Immer bereit!“, murmle ich.

„Jetzt raus hier!“ Haberer zieht uns beide Richtung Ausgang. Ingvar schafft es kaum zu laufen. Seine Beine knicken weg, als seien die Kniegelenke defekt.

Plötzlich geschieht es. Wir hätten es vorhersehen können, vorhersehen müssen. Haberers Handy beginnt zu klingeln. Keine Ahnung, wer um diese Zeit etwas von ihm will. Einer seiner tausend Kontakte …

„I’m building a wall … A fine wall …. Not so much to keep you out ….More to keep me in …“ Ein toller Klingelton, den er da hat. Pet Shop Boys. Und wahnsinnig laut.

Wir stürzen die Treppe hoch. Wie naiv, zu hoffen, man habe uns eventuell nicht gehört. Licht wird eingeschaltet und wie ein Schattenriss steht die Kontur des Thomas Rosenlöcher in der Tür. In seiner Hand ein Knüppel. Nicht zu groß. Man könnte einen Angriff wagen.

Das übernimmt Haberer: “ Herr Rosenlöcher! Welche Überraschung! Man kann doch über alles reden …“ So schwatzend schafft er es, nah genug an Rosenlöcher heranzukommen, um ihm das Knie in die Magengrube zu rammen. Wir stoßen den Mann die Treppe hinunter. Ein bisschen bin ich geschockt von unserer Brutalität. Doch als ich das Glitzern sowohl in Haberers Augen als auch in denen Ingvars bemerke, komme ich zu dem Schluss, dass wir hier nur etwas tun, was die Evolution in aller Ausdrücklichkeit für uns vorgesehen hat und ohne das unser Testosteron lediglich alberner und ornamentaler Firlefanz wäre.

Euphorisiert wollen wir aus dem Haus hinausstürmen. Dabei haben wir mit einem nicht gerechnet. Dass Rosenlöcher nicht allein sein könnte.

Ich identifiziere den Mann mit der Maschinenpistole sofort als Uwe Tellkamp. Alle drei haben wir sofort die Hände oben. Inzwischen hat sich auch Rosenlöcher berappelt und kommt die Treppe nach oben, die Fäuste geballt, Staub in den Barthaaren.

„Ruhig, ruhig“, befiehlt Tellkamp. „Bringen wir sie hoch. Und dann rufen wir den Fitzek an.“

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